Vor 60 Jahren: Kriegsende an der Universitätssternwarte Wien

Von Univ.-Prof.Dr.Iwan Nikoloff, Perth, West Australien
Bericht eines Zeitzeugen: Exzerpiert, zusammengefaßt und durch Vorbemerkungen ergänzt von Univ.-Prof.Dr.Hermann Haupt, Graz.
Aus Sternenbote 2/2005

Für die Zeit vor dem Kriegsende 1945 und des Wiedererstehen der Republik Österreich gibt es nur noch wenige Zeitzeugen. Der einzige noch lebende Astronom, der alles hautnah miterlebt hat, ist Dr.Iwan Nikoloff, der jetzt in Perth in West Australien wohnt und mir seine Erinnerungen dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat.

1 Vorbemerkungen

In den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges kam, wie auch aus den noch erschienenen Jahresberichten der Astronomischen Gesellschaft hervorgeht, die Forschung und Lehre in der Astronomie bei uns weitgehend zum Erliegen. Im Personalstand der Universität Wien gab es zwei Ordinariate, das eine, für Theoretischen Astronomie, hatte Univ.-Prof.Dr.A.Prey (1873-1949) von 1930 bis 1946 inne, das andere, für Allgemeine Astronomie, war verbunden mit der Direktorstelle an der Sternwarte und wurde von 1928 bis 1948 von Univ.-Prof.Dr.K.Graff (1878-1950) wahrgenommen. Graff war allerdings von 1938 bis 1945 von den Nationalsozialisten vom Dienst enthoben und in den Zwangsruhestand versetzt worden. Er lebte während dieser Zeit in Breitenfurt nahe Wien, wurde 1945 rehabilitiert und kam wieder an die Sternwarte. Beide Professoren waren Wirkliche Mitglieder der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Prey sogar Sekretär der mathematisch-natur-wissenschaftlichen Klasse von 1945 bis zu seinem Lebensende. Von 1940 bis 1945 war Univ.-Prof.Dr.B.Thüring (1905-1989) zum Direktor eingesetzt worden, aber infolge seiner Wehrdienstleistung war er ab 1942 nur mehr zeitweise in Wien anwesend. In der direktorlosen Zeit hatte Prof.Prey mehrmals die kommissarische Leitung der Sternwarte. Auch mit Univ.-Prof.Dr.K.Schütte (1898-1974) war es so, daß er zwar zum Nachfolger von Prey designiert war, aber in Wien niemals wirklich antrat. In der Lehre, die sich bis in die 1950er-Jahre vorwiegend im Gebäude Strudlhofgasse/Boltzmanngasse im 9.Bezirk abspielte, waren außer den schon genannten auch noch die Universitäts-Professoren Dr.A.Hnatek (1876-1960) und Dr.O.Thomas (1882-1963) tätig.

Auch von den Assistenten waren fast alle zum Dienst in der Wehrmacht eingezogen worden oder irgendwie und irgendwohin dienstverpflichtet, sodaß sie zwar im Personalstand verzeichnet, aber in Wirklichkeit nicht anwesend waren, wie etwa Dr.W.Becker, Dr.K.Ferrari d'Occhieppo (soweit er noch anrechenbar war, weil er ab 1937 dort nicht mehr beschäftigt war, aber - soweit er nicht eingerückt war - auf der Sternwarte wohnte), Dr.K.Himpel, Dr.E.Reeger, Dr.G.Schrutka-Rechtenstamm, Dr.Th.Widorn und andere. Nur die Stellung als Wissenschaftlicher Beamter an der Sternwarte hielt der langjährige Observator (ab 1935 Regierungsrat, später Hofrat) Dr.H.Krumpholz (1883-1966), der über seinen Eintritt in den Ruhestand (1950) hinaus noch viele wertvolle Dienste leistete und durch die gediegene Führung der ganzen Verwaltungsgeschäfte auch schon während des Krieges für die Kontinuität der Arbeit an der Sternwarte verantwortlich war. Auch fast alle nichtwissenschaftlichen Angestellten waren zum Militär eingerückt; so war nur ein eingeschränkter Dienst möglich.

Auf dem Gelände der Sternwarte befanden sich gegen Kriegsende noch die Dienstwohnungen folgender Personen: Im Hauptgebäude Direktor B.Thüring, die Observatoren H.Krumpholz und J.Rheden (1873-1946, ehemaliger Vizedirektor im Ruhestand), W.Becker, Ing.H.Pensimus (Technischer Zeichner) und der Student H.Roth. In ganz primitiven Wohnungen des Souterain und in den Nebengebäuden im Park der Sternwarte waren außer A.Hnatek noch mindestens 12 Personen des nichtwissenschaftlichen Dienstes (hauptsächlich Pensionisten mit ihren Angehörigen) wohnhaft.

2 Der Krieg geht zu Ende

Am 2. Januar 1941 (also noch vor dem Balkankrieg) war der in Lom (Bulgarien) im Jahre 1921 geborene Iwan Nikoloff nach Wien gekommen, um zunächst an der Technischen Hochschule (heute "Technische Universität") zu studieren. Er verbrachte die erste Zeit in den Studentenheimen Pfeilgasse und Säulengasse. Um Geld zu verdienen, arbeitete er nach zwei Semestern in einer mechanischen Werkstätte, später hielt er sich (wie auch heute noch manche junge Kollegen) als Rattenvertilger über Wasser. Mit dem Fahrrad klapperte er Bauernhöfe im Salzkammergut ab und verteilte dort das Rattengift. So gut es ging, nahm er an den Vorlesungen in der Strudelhofgasse teil, besonders weil den Studenten nahegelegt worden war, sich möglichst auf diese Vorlesungen zu konzentrieren, damit nicht noch mehr Professoren zum Kriegsdienst eingezogen würden und die Notwendigkeit ihrer Freistellung auch den Militärbehörden einsichtig wäre. Nikoloff stellte sich auch für verschiedene Arbeiten an der Sternwarte zur Verfügung und erreichte so, daß er 1943 als "Wissenschaftliche Hilfskraft" angestellt wurde, was ihm die Fortsetzung und letztendlich nach dem Krieg den Abschluß seiner Studien mit dem Doktorat (1948) ermöglichte. Schließlich fand er auf der Sternwarte Unterkunft und kann daher über die letzten Tage der Deutschen Wehrmacht und den Einmarsch der Russen authentisch berichten. Beim Herannahen des Kriegsendes und dem Näherrücken der Front wurde Nikoloff zum Arbeitseinsatz verpflichtet und mußte bei der Beseitigung von Bombenschäden bei den Floridsdorfer Bahnanlagen helfen. Außerdem hatte ihn die bulgarische Exilregierung zur Musterung geholt und wollte ihn zum Kriegsdienst einziehen. Er aber folgte dieser Aufforderung nicht und erhielt von Dr.Krumpholz die Versicherung, daß er weiter auf der Sternwarte wohnen dürfe und die Institutsleitung offiziell keine Kenntnis von der Einberufung nehmen würde. Einen Monat später wurde Wien von den Sowjettruppen besetzt und damit hatte sich dieses Problem erledigt.

Während der letzten Kriegsmonate war die Wiener Sternwarte von Zerstörungen verschont geblieben. Unter dem Rundsaal war beim Fundament des Großen Refraktors eine Rettungsstelle mit Operationssälen eingerichtet worden, die aber nur ein Mal nach einem Bombenangriff benutzt wurde. Natürlich dienten diese Räume auch als Luftschutzkeller für die Sternwartenbewohner und für die Verwundeten und das Personal benachbarter Lazarette. Lediglich 13 Bomben fielen auf den Sternwartengrund, wovon 12 explodierten und eine ein Blindgänger war. Einen Treffer erhielt nur die Gärtnerwohnung im sogenannten "Spöttlgebäude" und beim Astro-graphen wurden alle Fenster des Ateliers durch vier nahe Einschläge zertrümmert. Nach dem Krieg wurden dort Wohnräume für einen Beobachter eingerichtet und auch Nikoloff hat dort zeitweise gewohnt. Die Einfassungsmauer des Stenwartenparkes war für die Verteidigung Wiens durch den Volkssturm vorbereitet. Frauen aus der Umgebung kamen aber mit Zivilkleidern und überredeten die jungen Volkssturmmänner, ihre Uniformen sowie die Waffen wegzu- werfen und nachhause zu gehen. Die Bewohner haben dann Waffen und Munition hinter der Mauer der Sternwarte beim Tor zur Sternwartestraße vergraben. Die hohe Mauer schützte auch sonst vor unliebsamen Besuchen durch Plünderer und Soldaten.

Später trug sogar ein permanent besetzter russischer Telephonposten im Portierhaus beim Eingang an der Türkenschanzstraße zur Sicherheit bei und verhinderte das Betreten durch unbefugte Personen. Inzwischen hatte die heranrückende Front Frau Thü-ring und Frau Pensimus mit ihren Kindern zum eiligen Verlassen der Sternwarte veranlaßt. Sie setzten sich nach Westen ab, sodaß Prof Thüring, als er seine Familie holen wollte, niemand mehr antraf. Herr Pensimus blieb aber und versuchte erst später zu flüchten, wobei er den Tod fand. Auch die Ärzte der Rettungsstelle waren geflohen; sie hatten ein schönes neues Auto bei der Westkuppel hinterlassen, das die Zurückgebliebenen unter Baumzweigen versteckten. Später ist es aber doch von den Russen entdeckt und weggenommen worden. Die schweren Fliegerabwehrgeschütze der Flaktürme Stiftskaserne und Augarten sind schließlich in die Bodenkämpfe eingesetzt worden und bestrichen mit ihren Salven auch das Sternwartengelände. Ein paar Tage später wurden zeitlich in der Frühe zwei Männer in blauen Schlosseranzügen gesehen, die auf dem Sternwartengelände zwei Pferde zur Weide führten. Nikoloff, der nicht im Astrographengebäude, sondern auf einer Couch im Foyer der Sternwarte geschlafen hatte, ging vorsichtig zu ihnen. Diese (offenbar waren es Sowjetsoldaten) fragten in russischer Sprache, ob noch deutsche Soldaten da seien. Er versicherte ihnen (ebenfalls in russischer Sprache, die er beherrschte), daß alle geflohen seien, worauf einer der beiden ein Gewehr abschoß. Darauf wurden die Tore zum Sternwartengelände aufgerissen und russische Truppen mit Ausrüstung und Fahrzeugen füllten bald den ganzen Park. Während am Gürtel noch gekämpft und geschossen wurde, haben die Russen im Park gekocht und ihn zum Mittagessen eingeladen. In großen Kübeln wurde Fleisch und Gemüse ausgeteilt und dazu gab es Brot. Zum Abschied schenkten ihm die Soldaten nochmals Brot und Kirschenmarmelade (!), worauf sie abzogen und zu weiteren Kämpfen abmarschierten.

Immerhin war es Dr.Krumpholz gelungen, alle Instrumente der Sternwarte unbeschädigt zu erhalten, indem er den Befehl der Nazis zu ihrer Zerstörung einfach ignorierte. Dem Vernehmen nach war aber nur ein einziger nennenswerter Schadensfall im wissenschaftlichen Inventar eingetreten, nämlich die Zerschlagung einer größeren Anzahl von Photoplatten. Die Familien Krumpholz und Rheden haben dann mit Beherrschung und Geduld die russischen Besuche ertragen. Ihre Töchter wurden in weiße Mäntel gekleidet und als Assistentinnen der Sternwarte vorgestellt; so passierte ihnen nichts, wie Frau Hedwig Rheden später erzählte (der ich für ihre Mitteilungen danke!). Die Soldaten inspizierten höflich alle Privatwohnungen und Gebäude und schlugen dann auf den Außenwänden Plakate an, auf denen "Durchsucht" stand. Einige Offiziere wohnten sogar kurze Zeit in der Nordwestwohnung im Parterre, offenbar ohne die übrigen Bewohner der Sternwarte zu belästigen. Schwierigkeiten gab es nur, weil die Russen die vergrabene Munition wieder ausgruben, die von den Bewohnern nicht gemeldet worden war. Außerdem war den Sternwartenleuten nicht bewußt, daß sie für die Zeitsignale eine direkte Telephonverbindung mit Berlin hatten, was den Russen aber sehr wohl bekannt war. Doch ging auch das unter ständiger Intervention von Nikoloff gut vorbei. Russische Offiziere kamen öfter und suchten das "Planetarium" (Planetarium Moskau, ein Begriff! Red.). Als ihnen dann die Sternwarte gezeigt worden war, gingen sie zufrieden weg.

Umittelbar nach dem russischen Einmarsch traten auch hier Engpässe in der Versorgung auf: Es gab einige Tage keinen Strom, kein Gas und kein Wasser, bis gegenüber dem (heutigen) Kainzpark in der Sternwartestraße ein auf Sternwartengrund gelegener unbenützter Brunnen gefunden wurde, der nach Reinigung im Handpumpenbetrieb genügend Wasser lieferte. Es dauerte ungefähr zwei Wochen, bis Elektrizität, Gas und Wasserversorgung wieder einigermaßen funktionierten. Wenn auch in den kommenden Monaten das Gärtnerglashaus (mit Gemüse) und die Bäume des Parkes (mit Brennmaterial) aushelfen mußten, so traten doch bald wieder halbwegs "normale" Zustände ein; dies insbesonders, nachdem sich eine provisorische österreichische Regierung gebildet hatte und schließlich der 18.Bezirk von den Amerikanern übernommen worden war. Schon im Sommer 1945 begannen die Aufräumungsarbeiten und die Vorlesungen an der Universität. Auch kehrten die nach und nach aus dem Krieg heimgekehrten Soldaten und die politisch nicht Belasteten an die Sternwarte auf ihre Dienstposten zurück. Dr.Nikoloff verließ in den Fünfzigerjahren die Universitätssternwarte Wien, ging dann als Wissenschaftler nach Indonesien und schließlich nach Australien, wo er bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand als Direktor des Observatoriums Perth tätig war.

Daß die Wiener Sternwarte diese kritische Zeit im Wesentlichen unbeschädigt überstanden hat, ist also nur wenigen Engagierten zu verdanken, vor allem Dr.Iwan Nikoloff und Hofrat Dr.Hans Krumpholz, denen an dieser Stelle anläßlich des 60-jährigen "Jubiläums" ein Denkmal gesetzt werden sollte.

Univ.-Prof.Dr.Hermann Haupt, Graz.


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